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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 30.10.2006:

Chemiestund´ mit Gold im Mund

Chemie im Kontext wirkt auch nach Ende des Schulversuchs auf die Rahmenlehrpläne in den Ländern und in den Schulen nach
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Chemieversuch. Quelle: Photocase.de

Die Alchemisten waren im Mittelalter von der Vorstellung besessen, aus unreinem Metall Gold zu gewinnen. Heute rechnet niemand mehr im Ernst damit, Gold herzustellen. Chemiker klassifizieren und analysieren Stoffe, rechnen mit Formeln und stellen neue Verbindungen zwischen den Stoffen her. Aus der geheimnisvollen Alchemie ist eine genaue Naturwissenschaft geworden. Diese ist indes bei vielen Mädchen und Jungen reichlich unbeliebt.     

Dabei ist die Chemie im Leben der Menschen allgegenwärtig: im Körper, im Haus, im Garten, in den Gewässern, in Autos und Flugzeugen und in den Raumschiffen. Chemie im Kontext greift die Gelegenheiten des Alltags auf. "Alltagsbezüge gelten bei Chemie im Kontext nicht mehr nur als motivierende Blicke über den Tellerrand, sondern sind zum didaktischen Rückgrat des gesamten Unterrichts geworden", heißt es auf der Projekthomepage Chik.de. Die Aufmerksamkeit von Schülerinnen und Schülern für den Chemieunterricht, die ist gold.    

"Es ist nicht alles Gold, was glänzt"
Der Schulversuch, der vom Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften in Kiel (IPN) durchgeführt und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt wird, setzt dazu auf drei Grundprinzipien: Kontextorientierung, Vernetzung zu Basiskonzepten und Methodenvielfalt. Basiskonzepte geben eine fachliche Orientierung und bilden das verbindende Glied zwischen den chemischen Alltagsphänomenen und der Chemie als Fachwissenschaft. Sie schließen an die Bildungsstandards und an Rahmenlehrpläne der Länder an. Informationssuche und Expertenvorträge, Gruppenarbeit und Partnerarbeit, Schülerexperimente und Stationsarbeit: Eine Vielfalt an Methoden dient dazu, die Mädchen und Jungen am Unterrichtsgeschehen zu beteiligen, damit im besten Falle aus Zaungästen der Chemie selbstständig forschende Schülerinnen und Schüler werden und die Lehrkräfte zu Lernberatern.    

"Es ist nicht alles Gold, was glänzt", ist so ein Beispiel für ein Basiskonzept rund um den naturwissenschaftlichen Schwerpunkt Stoff-Teilchen. Dieses Konzept entstand in einem Schulset Baden-Württembergs. Die Einheit für die Jahrgangsstufen neun und zehn sieht vor, den Atomaufbau am Beispiel von Abfällen und Metallrecycling zu besprechen. Von der Begegnungsphase über die Planungsphase bis zur Erarbeitungs- und Vertiefungsphase untersuchen die Jugendlichen Metalle im Alltag, machen dazu Experimente und erklären die Eigenschaften der Metalle anhand von Modellen in der Chemie.

Die Basiskonzepte wurden in den "Lerngemeinschaften" der Schulsets entworfen: unter Beteiligung von Lehrkräften aus den Reformschulen, Didaktikern des IPN, Repräsentanten der Bildungsadministration und Naturwissenschaftlern. Bilanz dieser Kooperation: "Die Befunde belegen insgesamt, dass das im Projekt realisierte Konzept der Lerngemeinschaften sehr positive Effekte hat", so im Schlussbericht zu Chik aus dem Jahr 2005.    

Die Faszination der Chemie eröffnet sich wie schon bei den Alchemisten erst beim praktischen Versuch. Im Jahr 2002/2003 angelaufen, wartet das Programm vier Jahre später mit weiteren interessanten Ergebnissen auf.     

Was Chemie im Kontext bewirkt hat
Chemie im Kontext ist größer geworden: War ChiK vor vier Jahren in zehn Bundesländern an 58 Schulen mit 121 Lehrkräften präsent, so beteiligten sich 2004 bereits 140 Schulen mit 260 Chemielehrern in zwölf Bundesländern. Heute − nach dem Schulversuch − ist ChiK bereits in 15 Ländern vertreten. Die Länder haben mehr Verantwortung übernommen. Am meisten ist ChiK mit der Bildungsadministration in Bayern verwurzelt. Dort ist es gelungen, dass pädagogische Einrichtungen des Landes das Programm in eigener Regie fortführen, so Reinhard Demuth, Projektleiter von ChiK am Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften. Chik wird während der Projektlaufzeit umfassend erforscht: Allein in 14 Dissertationen beschäftigen sich Nachwuchswissenschaftler mit der Reform des Chemieunterrichts am Leitfaden der Lebenswelt.   

Spätestens seit PISA weiß man, dass Schüler in Deutschland Schwierigkeiten damit haben, die Fülle des Wissens auf Alltagsprobleme anzuwenden. Wie gelingt es Mädchen und Jungen, das Wissen in der Praxis anzuwenden, nachdem sie im Zuge von Chik angeleitet wurden? Jürgen Menthe, wissenschaftlicher Mitarbeiter des IPN, ging dieser aktuellen Frage in seiner Dissertation nach, die 2006 veröffentlicht wurde: "Urteilen im Chemieunterricht - Eine empirische Untersuchung über den Einfluss des Chemieunterrichts auf das Urteilen von Lernenden in Alltagsfragen". An vier Beispielen untersucht Menthe, wie groß der Einfluss naturwissenschaftlicher Kenntnisse auf die alltäglichen Urteile der Schülerinnen und Schüler über Chemie tatsächlich ist.    

Das Ergebnis lässt aufhorchen. Die Macht der Denkgewohnheiten wirkt sich offensichtlich noch auf die wissenschaftliche Urteilsfähigkeit von Schülern aus. "Die Auswertung der Daten zeigt, dass naturwissenschaftliche Inhalte erfolgreich gelernt, aber nur partiell angewendet werden", so Jürgen Menthes Ergebnis. Urteile der Schüler änderten sich nur selten durch einzelne Unterrichtseinheiten. Der Autor sieht hier "Grenzen der Anwendbarkeit schulischen Wissens im Alltag".

Welche Fähigkeiten Mädchen und Jungen im Chemieunterricht brauchen
Wie lassen sich die Fähigkeiten von Schülern im Chemieunterricht beschreiben? Welche Kompetenzbereiche erfasst die naturwissenschaftliche Grundbildung im Chemieunterricht? Dorothé Christiansen hat hierzu eine Reihe von Testaufgaben entwickelt. Der Titel ihrer Doktorarbeit lautet: "Aufgaben zur Erfassung zentraler Kompetenzen in einem Unterricht nach Chemie im Kontext". Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Ermittlung des wissenschaftlichen Werkzeugs wie das Formulieren von chemischen Fragestellungen, das Planen und Bewerten von Untersuchungen oder der Umgang mit Zahlen und chemischen Formeln. Hierbei vergleicht die Wissenschaftlerin die Kompetenzen von Mädchen und Jungen im herkömmlichen Unterricht und von Schülern aus Chik-Klassen anhand des gemeinsamen Themas: "Säuren und Basen", das auch bei Chik im Zuge des Basiskonzeptes durchgenommen wird.     

Die Testaufgaben wurden von Schülerinnen und Schülern der zehnten und elften Stufen in vier Bundesländern gelöst und von Chemielehrkräften vorher eingeschätzt. "Chik-Schüler" erzielen bessere Ergebnisse bei der Lösung der Testfragen. Allerdings haben Lehrkräfte Schwierigkeiten, die naturwissenschaftliche Bildung der Schüler einzuschätzen, weil die mal überschätzt und mal unterschätzt werden.  

Merkmale guten Chemieunterrichts

Guter Chemieunterricht muss herausfordernd sein, ohne die Schülerinnen und Schüler zu überfordern, sagt die Erfahrung von Reinhard Demuth. Naturwissenschaftlicher Unterricht müsse an das anknüpfen, was Kinder bereits können. Dazu müssten Lehrkräfte die Lernvoraussetzungen der Kinder und ihr Interesse wahrnehmen. "Ein Rezept gibt es dafür allerdings nicht", so der Chemiker.    

Ohne die Lehrerinnen und Lehrer gibt es keine Reform des Chemieunterrichts. Die Bedürfnisse der Lehrkräfte an Grundschulen, Haupt- und Realschulen oder an Gymnasien unterscheiden sich aber deutlich. Gerade an den Primarschulen und an Haupt- und Realschulen unterrichten viele Lehrkräfte Chemie als fachfremde Lehrer. Für diese Lehrer sind jedoch mobile Schülerlabore unterwegs, die mit fachfremden Lehrkräften Chemieversuche üben. An dieser Stelle ist eine praxisorientierte Lehrerfortbildung gefragt.      

Eine Besonderheit von Chemie im Kontext ist das Vorgehen bei der Verbreitung der Reformen. Fachleute sprechen von einer "symbiotischen Implementationsstrategie". Damit ist nichts anderes gemeint, als dass die Konzepte eines innovativen Chemieunterrichts nicht von oben verordnet werden. Genauso wenig werden den Programmschulen fertige Konzepte aufgedrückt. Symbiotisch steht für gemeinsames Entwickeln von Unterrichtsmaterialien und der systematischen Durchdringung dieser Reformideen von Programmschulen zu anderen Schulen. Chik bietet einen konzeptionellen Rahmen, der fortlaufend und gemeinsam von Lehrkräften der Schulsets, Didaktikern des IPN, Wissenschaftlern der Universitäten Dortmund, Oldenburg und Wuppertal entwickelt werden. Alle Lehrkräfte, die im Schulset leitende Funktionen eingenommen haben, erhielten dazu von den Ländern zwei Entlastungsstunden in der Woche.      

Konsequenzen für die Lehrerbildung
Wenn die Reformen des Chemieunterrichts nicht auch in der Lehrerbildung und der Lehrerfortbildung ankommen, verpuffen sie. Die Reform der Studiengänge durch ein zweistufiges Bachelor- und Masterstudium bietet Chancen und Risiken für einen innovativen Chemieunterricht. "Chemiker müssen so ausgebildet werden, dass sie Lehrer werden können, das Fachwissen ist zunächst sekundär", sagt Demuth. Nach Reinhard Demuth nutzt Rheinland-Pfalz mit am besten die Chancen einer Reform der Lehrerbildung. Und das ist der Grund: Viele Länder vermitteln im Zuge der Chemie-Lehrerbildung in der dreijährigen Bachelorphase überwiegend chemisches Fachwissen. Erst im Masterstudium kommen praktische Einheiten dazu. Dieses wenig ganzheitliche Vorgehen aber hält er für unzweckmäßig.  

In Rheinland-Pfalz hingegen ist die wissenschaftliche Ausbildung zum Chemiker eng mit der didaktischen verknüpft - von Bachelor-Anfang an. Dort durchläuft schon der zukünftige Bachelor of Science ausgedehnte Praxisphasen neben der wissenschaftlichen Ausbildung. Schulartenbezogene Inhalte etwa, Unterrichten in Grund-, Haupt-, Realschulen oder Gesamtschulen stehen schon hier auf dem Lehrplan, während die Spezialisierung auf eine Schulart im Masterstudium stattfindet. Chemiker sollen in erster Linie Experten für das Lehren und dann erst Experten für Chemie werden. Stichwort: Professionalisierung des Lehrerberufs.  

Strom aus Früchten
Chemie im Kontext stößt in den Schulen auf Zustimmung. Chemielehrer Andreas Birmes von der Gesamtschule Duisburg-Meiderich, der selbst nicht in der Setarbeit am Chik-Standort Nordrhein-Westfalen mitarbeitete, vermittelt Basiskonzepte wie "Strom durch Chemie". Strom auch aus Früchten zu gewinnen - solche Themen kommen bei Jugendlichen an. Er setzt die Unterrichtsmaterialien allerdings erst in der Oberstufe ein, wo die Schülerinnen und Schüler selbstständiger mit Strom aus alternativen Batterien experimentieren können.   

Hat eine Reform wie Chemie im Kontext Auswirkungen auf die Ergebnisse der nächsten PISA-Studie zur naturwissenschaftlichen Grundbildung? Messbar werden die Auswirkungen des Schulversuches vermutlich noch nicht sein. Doch aus vergleichbaren Reformen des Chemieunterrichts in England wisse man, dass Schüler, die sich den Naturwissenschaften kontextorientiert angenähert haben, später eher Naturwissenschaften studieren. "Das Interesse an der Sache ist bei solchen Schülern einfach höher", sagt Demuth. Für den einen oder anderen wird die berufliche Laufbahn im Bereich der Chemie dann eine Goldgrube sein, auch ohne den Stein der Weisen gefunden zu haben.  

Autor(in): Arnd Zickgraf
Kontakt zur Redaktion
Datum: 30.10.2006
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