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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 02.03.2023:

„Kluft zwischen Schüler*innen aus unterschiedlichen ökonomischen Verhältnissen hat sich vergrößert.“

Weltweit erhebliche Bildungslücken durch coronabedingte Maßnahmen
Das Bild zum Artikel
Bildrechte: ifo-Institut

Schulschließungen während der Coronapandemie haben zu einem großen Bildungsdefizit bei Schüler*innen weltweit geführt. Der Lernrückstand entspricht rund 35 Prozent eines Schuljahrs, stellt eine neue Metaanalyse fest. Die groß angelegte Analyse umfasst 42 Studien aus 15 Ländern, darunter vor allem welche aus Großbritannien und den USA, aber auch vier Studien aus Deutschland. Betroffen sind insbesondere Schüler*innen aus sozioökonomisch benachteiligten Familien.


Während der Coronapandemie waren die Schulen über Monate geschlossen und Unterricht war oft nur über das Internet möglich. Die Metaanalyse „ A systematic review and meta-analysis of the evidence on learning during the COVID-19 pandemic“, die am 30. Januar 2023 im Fachblatt „Nature Human Behaviour“ erschienen ist, zeigt auf, dass etwa 95 Prozent der Schüler*innen weltweit während der Pandemie von zeitweiligem Unterrichtsausfall betroffen waren. Das sind den Vereinten Nationen zufolge mehr als 1,6 Milliarden Schüler*innen in 190 Ländern. Für die von Bastian Betthäuser koordinierte groß angelegte Metaanalyse wurden 42 Studien aus 15 Ländern genauer untersucht - aus Australien, Belgien, Brasilien, Kolumbien, Dänemark, Deutschland, Italien, Mexiko, Niederlande, Südafrika, Spanien, Schweden, Schweiz, Vereinigtes Königreich und USA. Die analysierten Studien waren zwischen März 2020 und Mai 2022 veröffentlicht worden. Im Mittelpunkt standen kognitive Lerninhalte, die Folgen der Pandemie auf die psychosoziale Entwicklung wurden nicht betrachtet.

Lerndefizit durch Schulschließungen
In der Metaanalyse wurde über mehrere Länder hinweg ein Rückstand von rund 35 Prozent des normalen Lernfortschrittes in einem Schuljahr festgestellt. Vor allem in den ersten zwei bis drei Monaten der Coronapandemie sei laut Betthäuser, Assistant Professor am Zentrum für Forschung zu sozialen Ungleichheiten (CRIS) an der Pariser Universität Sciences Po, ein sehr großes Lerndefizit entstanden. Dieses konnte im Verlauf der Pandemie nicht mehr aufgeholt werden. Coronabedingte Schulschließungen und andere Quarantänemaßnahmen haben weltweit zu einem enormen Bildungsdefizit bei Schüler*innen geführt.

Die in der Metaanalyse festgestellten Lerndefizite sind in Mathematik am stärksten und weitaus größer als die Defizite in Sprachen, wie bei uns im Fach Deutsch. Die Wissenschaftler*innen vermuten, dass viele Eltern ihren Kindern beim Lesen und Schreiben besser helfen konnten. „Wenn es um Matheaufgaben geht, ist das für viele Familien schwieriger“, weiß Betthäuser. Ein weiterer Grund wird darin gesehen, dass die Inhalte in Mathematik aufeinander aufbauen. Werden einzelne Inhalte nicht verstanden, kommt es zu Folgeproblemen beim nachfolgenden Stoff. Zwischen den verschiedenen Klassenstufen wurden keine bedeutsamen Unterschiede bei der Größe der Rückstände festgestellt. Es wird aber davon ausgegangen, dass Defizite im Grundwissen von Schulanfänger*innen besonders schwerwiegende Auswirkungen auf deren Bildungsbiographie haben dürften.

Die soziale Herkunft beeinflusst die Bildungslücke
Dramatisch an dem Befund ist, dass vor allem Kinder aus ärmeren Haushalten, deren Eltern selbst nicht über höhere Bildung verfügen, von den Bildungslücken betroffen sind. Das bestätigt die Studie. Neben dem Lerndefizit in verschiedenen Schulfächern wurden auch der soziodemografische Status und das Durchschnittseinkommen im Land erfasst. Damit hat „sich die Kluft zwischen den wohlhabendsten und den am wenigsten wohlhabenden Familien vertieft“, stellt die Bildungswissenschaftlerin Cynthia Martínez Garrido von der Autonomen Universität Madrid fest. Kinder, die zu Hause keinen Zugang zu einem Computer, einem Arbeitsplatz oder dem Internet hatten, seien abgehängt worden. „Die Coronakrise ist auch in der Bildung eine Ungleichheitskrise“, so Bastian Betthäuser. Und das zeige sich nicht nur innerhalb der 15 untersuchten Länder, sondern auch auf globaler Ebene. In den Staaten mit mittlerem Einkommen, zu denen Daten vorliegen - das sind in der Studie Mexiko, Brasilien, Südafrika und Kolumbien - zeigten sich deutlich größere Lerndefizite als in wohlhabenden Ländern. Der ermittelte Rückstand sei hier deutlich größer gewesen und habe bei bis zu 90 Prozent der Lerninhalte eines Schuljahres gelegen. Noch höhere Lerndefizite vermutet Betthäuser in Ländern mit niedrigem Einkommen. Dafür gebe es jedoch bislang keine oder keine guten Daten. Die Autor*innen schränken ein, dass in der Metaanalyse keine Studien aus Ländern mit niedrigem Durchschnittseinkommen einbezogen werden konnten und daher der Vergleich mit dieser Gruppe fehlt. Der Großteil der Daten stammt aus reicheren Ländern wie Großbritannien, den USA, der Schweiz und Deutschland. Da aber mehr als 1,6 Milliarden Kinder und Jugendliche von Schulschließungen betroffen waren, dürfte das Bildungsproblem weltweit gesehen noch größer sein. Prof. Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik der Universität Augsburg, befürchtet, dass sich eine „Generation Corona“ bildet, die besonders stark unter der Pandemie gelitten hat. Das seien insbesondere die Jüngsten mit einem bildungsfernen Hintergrund aus wirtschaftlich schwachen Ländern. Ihnen werde es schwer fallen, die von den Curricula geforderten Standards in Zukunft zu erreichen.

Maßnahmen gegen den Lernrückstand

Die Autor*innen der Metastudie verweisen darauf, dass Angebote von Aufholprogrammen jetzt passgenau sein müssten, um die entstandene Kluft nicht weiter zu vergrößern. Sie müssten also dort ansetzen, wo der Bedarf am größten ist: bei den naturwissenschaftlichen Fächern und vor allem bei benachteiligten Kindern und Jugendlichen. Außerdem könnte ein Monitoring helfen, herauszufinden, welche Maßnahmen wirksam sind und welche nicht. Notwendig seien auch „gut konzipierte, gut ausgestattete und entschlossene politische Initiativen, um Lerndefizite aufzuholen“. Ohne Gegenmaßnahmen würden die Lücken die Bildungsungleichheit weiter verstärken. „Wir sehen in den Daten deutlich, dass ganz bestimmte Schülerinnen und Schüler in besonderer Weise unter der Pandemie gelitten haben - und zwar genau jene, die es ohnehin schon schwer hatten. Es muss jetzt darum gehen, genau diese Schülerinnen und Schüler gezielt zu unterstützen - auch im Regelunterricht“, meint auch Prof. Benjamin Fauth vom Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW). „Viele Schülerinnen und Schüler mit dem entsprechenden sozialen Hintergrund werden das ohne Weiteres wieder aufholen können“, vermutet er. Zierer empfiehlt den verstärkten Einsatz von Sommerschulen. Diese hätten bereits gezeigt, „dass sie bei allen Kindern und Jugendlichen positiv wirken.“ Auch Verlängerungen der Schultage oder -wochen, Nachhilfeprogramme und Onlineangebote wie Lern-Apps oder Bildungsplattformen sind bei Bildungsforscher*innen im Gespräch. Nur eine zu vorschnelle Digitalisierung solle laut Zierer vermieden werden. „Was vielfach geschehen ist - Lernenden Tablets in die Hände zu drücken und zu hoffen, dass diese positiv wirken -, ist als gescheitert anzusehen und es wird höchste Zeit, die Möglichkeiten der Digitalisierung zu nutzen und gleichzeitig die Gefahren zu vermeiden“, sagt Zierer. Der Einsatz digitaler Medien während der Pandemie habe zu einem verstärkten Gebrauch auch in der Freizeit geführt. Er fordert vielmehr kluge digitale Konzepte.

Betthäuser und sein Forscherteam empfehlen außerdem, den durch die Coronapandemie entstandenen Lernrückstand auch in Ländern mit mittleren und niedrigen Einkommen zu erforschen, damit auch da Maßnahmen gezielt eingesetzt und evaluiert werden könnten.


Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 02.03.2023
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