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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 01.12.2022:

„Wir müssen diese großen Aufgaben jetzt angehen und dürfen sie nicht weiter aufschieben.“

Handlungsempfehlungen für eine Digitalisierung im Bildungssystem
Das Bild zum Artikel
Bildrechte: Prof. Dr. Ulrike Cress

Die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) - ein unabhängiges Beratungsgremium der Kultusministerkonferenz (KMK) - hat am 19. September 2022 das Gutachten „Digitalisierung im Bildungssystem“ vorgelegt. Es enthält konkrete Handlungsempfehlungen, mit denen die Bildungseinrichtungen in Deutschland - von der Kita bis zur Hochschule - für die Anforderungen einer digitalisierten Welt zukunftsfähig aufgestellt werden sollen. Die Online-Redaktion von „Bildung + Innovation“ sprach mit Prof. Dr. Ulrike Cress, Direktorin des Leibniz-Instituts für Wissensmedien und Mitglied der SWK, über die Maßnahmen und Empfehlungen für die einzelnen Bildungsetappen.


Online-Redaktion: Während viele Eltern versuchen, ihre Kinder im Kindergartenalter noch von den digitalen Medien fernzuhalten, empfehlen Sie, Medienbildung in die Bildungs- und Orientierungspläne der Länder als eine verpflichtende Aufgabe für die Kitaträger aufzunehmen und medienpädagogische Inhalte sowie Elementarinformatik verbindlich in die Aus- und Weiterbildung der Erzieher*innen zu implementieren. Welchen Nutzen haben Kinder in dem Alter von Medienbildung?

Cress:
Kinder brauchen eine frühe Berührung mit Medien. Digitale Medien sind Teil ihrer Umwelt und die frühe Bildung muss Kinder auf das Vorhandensein dieser Medien vorbereiten und ihre Fragen beantworten. Digitale Medien können außerdem spezifische Prozesse in der frühen Bildung unterstützen, wie zum Beispiel das Sprachenlernen im Bereich der phonologischen Bewusstheit und beim Wörterlernen. Altersgerechte Elementarinformatik vermittelt Kindern eine Vorstellung von Mengen, Regeln und Relationen.

Online-Redaktion: Hätten die Kinder denn Nachteile, wenn sie erst in der Grundschule mit digitalen Medien in Berührung kommen?

Cress: Je früher Kinder Grundfähigkeiten darin aufbauen, desto besser verstehen sie logische Zusammenhänge und Regelwerke. Computerprogramme können bei Kindern sehr spielerisch Neugier wecken. Sie können zur frühen Bildung beitragen, solange sichergestellt ist, dass es gute, kindgerechte Medien sind und sie dem Fachpersonal frei und offen zur Verfügung stehen. Die Fachkräfte müssen darin geschult werden, die Güte von digitalen Materialien einzuschätzen und sie so einzusetzen, dass sie sich positiv auf die Kinder auswirken. In Deutschland wird die Diskussion über digitale Medien in der frühen Bildung oft noch sehr ideologisch und kritisch geführt. Auch in den Bildungsplänen der Länder ist das Thema häufig noch immer negativ besetzt. Von daher empfehlen wir eine Informationskampagne, die Eltern und Fachkräfte darüber aufklärt, was Medien in der frühen Bildung leisten können.

Online-Redaktion: Für eine digitale Bildung an Schulen fehlt es oft an der Infrastruktur, an Lehr- und Lernmaterialien sowie ausgebildetem Personal, auch wenn seit der Corona-Pandemie an den Schulen viel passiert ist. Was brauchen die Schulen, damit digitale Bildung stattfinden kann, die den Unterricht verbessert?

Cress: Der DigitalPakt der Bundesregierung sichert die technische Ausstattung an den Schulen. Was wir aber genauso dringend brauchen sind Konzepte und skalierbare Lösungen. Lehrkräfte müssen ausreichend evidenzbasiertes Lehr- und Lernmaterial zur Verfügung haben und das Material nicht selbst erstellen müssen. Digitale Medien erfordern eine andere Didaktik, die verstärkt auf Individualisierung und Kollaboration setzt. Deshalb empfehlen wir die Einrichtung von zwei länderübergreifenden Zentren für digitale Bildung (ZdB) - eins für die MINT-Fächer (Mathematik, Naturwissenschaften, Informatik, Technik) und eins für die Sprachen - in denen Expert*innen aus der Praxis, aus der Fortbildung, aus der Wissenschaft, von den Landesinstituten und von Unternehmen gemeinsam Materialien und didaktische Konzepte für den Einsatz im Unterricht entwickeln und für deren Transfer in die Breite sorgen.

Online-Redaktion: Wie stehen die Lehrkräfte zum Einsatz von digitalen Medien?

Cress: Durch Corona haben viele Lehrkräfte entdeckt, dass digitale Bildung auch positiv sein kann. Untersuchungen zeigen, dass nur rund zehn Prozent digitalen Medien an den Schulen ablehnend gegenübersteht. Ein Großteil ist also davon überzeugt, dass es etwas Gutes ist, aber vielen fehlt noch die Kompetenz. Zurzeit ist das Thema Digitalisierung für sie eine zusätzliche Hürde, die den Unterricht komplexer macht und nicht einfacher. Deshalb brauchen wir dringend direkt umsetzbare Konzepte!

Online-Redaktion: Sie sprechen sich dafür aus, das Fach Informatik ab dem Schuljahr 2024/25 in der Mittelstufe in allen Bundesländern verbindlich einzuführen. Sollte digitale Bildung nicht in allen Fächern stattfinden und besteht nicht die Gefahr, dass sich Medienbildung in der Schule auf das Fach Informatik konzentriert, während in den anderen Fächern Unterricht wie bisher analog praktiziert wird?

Cress: Wir empfehlen beides! Digitalität verändert die Fächer, es verändert die notwendigen Kompetenzen und ermöglicht fächerübergreifende Zusammenhänge. Die Fachgesellschaften müssen definieren, was an neuen Anforderungen auf die Fächer zukommt. Aber zusätzlich ist wichtig, dass Schüler*innen über informatisches Basiswissen verfügen. Sie müssen wissen, was Algorithmen sind, was Künstliche Intelligenz (KI) ist. Es gehört heute zu den Grundfertigkeiten, die Bildung vermitteln muss, genauso wie Rechnen und Schreiben. Von daher empfehlen wir, das Fach Informatik verbindlich einzuführen. In der Grundschule im Sachkundeunterricht ab der 3. Klasse als Modul und in der Sekundarstufe I mit insgesamt vier bis sechs Stunden. Wir brauchen dringend Informatiker*innen auf dem Arbeitsmarkt, aber wir haben nicht den Weg, der die jungen Menschen dorthin führt. Wenn Informatik ein Pflichtfach wäre, würde es z.B. auch bei Mädchen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit zu einer entsprechenden Berufswahl führen.

Online-Redaktion: Woher sollen die freien Stunden und Lehrkräfte für das Fach Informatik kommen?

Cress:
Wir schlagen vor, dass es für das Fach Informatik gelockerte Bedingungen gibt. Es gibt zurzeit zu wenig Absolvent*innen und wir können nicht darauf warten, bis die heutigen Studierenden ihr Studium abgeschlossen haben. Wir brauchen Seiten- und Quereinsteiger*innen. Was die Stunden angeht, sage ich: „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.“ Länder wie Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Bayern, Baden-Württemberg und das Saarland haben Informatik in einzelnen Jahrgangsstufen ab der 5. Klasse bereits verpflichtend als Unterrichtsfach eingeführt, Niedersachsen wird dies ab 2023 tun.

Online-Redaktion: Ohne eine entsprechende Aus- und Fortbildung von Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften wird es eine fundierte digitale Bildung nicht geben können. Welche Maßnahmen empfehlen Sie für die Lehrkräfteaus- und -fortbildung?

Cress: Der Monitor Lehrerbildung zeigt, dass nur an wenigen Standorten Lernen/Lehren mit digitalen Medien angeboten und verbindlich belegt werden muss. Das bedeutet im Umkehrschluss: An den meisten Standorten studieren zukünftige Lehrkräfte noch immer, ohne mit digitalen Medien konfrontiert zu werden. Das ist ein Skandal! Digitale Bildung muss schon in der Lehrkräfteausbildung verbindlich und prüfungsrelevant sein. Wir brauchen an den Hochschulen mehr Lehrstühle, die digitale Bildung zum Inhalt haben und mehr digitale Labs und Probierräume, wo sich Studierende mit Medien ausprobieren können. Auch die Lehrerfortbildung muss Übungsmöglichkeiten schaffen und digitale Tools verwenden. Deshalb ist es wichtig, dass die von uns vorgeschlagenen Zentren für digitale Bildung eingerichtet werden. Sie können Konzepte, Materialien und Unterrichtssettings erstellen und die rund 800.000 Lehrkräfte damit fortbilden.

Online-Redaktion: Auch in der Arbeitswelt hält die Digitalisierung Einzug. Wie können die Veränderungen, die die Digitalisierung in den meisten Berufen mit sich bringt, in der beruflichen Bildung berücksichtigt werden?

Cress: Die Digitalisierung verändert die Berufe drastisch und zwar alle. Auch die, von denen man es gar nicht erwarten würde, wie zum Beispiel im Pflegebereich. In der beruflichen Bildung spiegelt sich das aber noch nicht wider. Im Schulberufssystem spielt Digitalisierung noch keine bedeutende Rolle und in der dualen Ausbildung liegt es am ausbildenden Betrieb, ob er Digitalisierung berücksichtigt. Große Unternehmen tun das schon, kleine und Kleinstbetriebe kaum. Die berufliche Bildung muss die Bedingungen unbedingt angleichen und mehr arbeitsplatzübergreifendes Lernen ermöglichen, z.B. durch die Bereitstellung gleicher Systeme im Betrieb und in der Berufsschule. Das ist gerade mit digitalen Medien sehr gut machbar. Wir empfehlen den Aufbau einer Struktur aus Clearing, Transfer und Leading Houses. Hier sollte systematisch eruiert werden, was es schon für Umgebungen und Tools gibt, welche davon skalierbar sind bzw. wie man sie skalierbar macht.

Online-Redaktion:
Inwieweit lehren die Hochschulen schon digital und wie können digitale Kompetenzen bei Studierenden und Dozierenden in der Hochschulbildung noch gestärkt werden?

Cress: Die Hochschulen sind sehr viel besser aufgestellt als die Schulen. Es gab schon sehr früh einzelne Disziplinen wie die Informatik oder Mediendidaktik, die digitale Lehre praktizierten. Das Problem besteht darin - und das hat sich während der Corona-Pandemie noch verstärkt -, dass eine Verstärkung digitaler Bildung an der Universität oft mit einer Annäherung an ein Fernstudium verwechselt wird: Dozierende bilden ihre Vorlesungen als Video ab oder bieten sie verschriftlicht im Internet an, so dass die Studierenden auch von zuhause aus auf sie zugreifen können. Das ist aber nicht das, was digitale Lehre ausmacht. Digitale Lehre kann Kollaborationen und Reflexionen fördern, interprofessionelles Lernen ermöglichen und durch Simulationen das Erkennen von Zusammenhängen fördern. Sie kann Studierende entsprechend ihrem Lernstand individuell unterstützen. Dazu gibt es gute Einzelbeispiele. Diese kommen bisher aber nicht in der Breite an. Um die Lehre flächendeckend zu erreichen, brauchen Hochschulen umfassende Servicestrukturen, die von den Dozierenden genutzt werden können, die einen Austausch über Technik bieten und Rechtsberatungen ermöglichen. Es müssen standortspezifische und hochschulübergreifende Lehr- und Digitalisierungsstrategien entwickelt sowie technische, räumliche, fachdidaktische und rechtliche Strukturen aufgebaut und verstetigt werden. Viele Hochschulen, Dozierende und Studierende sind zum Beispiel verunsichert, was das Urheberrecht angeht oder das digitale Prüfungsverfahren. Hier muss es rechtliche Absicherungen geben.

Online-Redaktion: Das Gutachten der SWK ist Ende September veröffentlicht worden. Wie wird es angenommen?

Cress: Es wird von der KMK diskutiert. Wichtig ist, dass wir diese großen Aufgaben jetzt angehen und nicht weiter aufschieben. Digitale Bildung wird die Qualität der Lehre in allen Bildungsetappen verbessern. Sie ist aber aufwendig und mit finanziellen Ressourcen verbunden. Damit sie ihr Potential entfalten kann, ist die Schaffung entsprechender tragfähiger Strukturen notwendig.


Prof. Dr. Ulrike Cress ist Direktorin des Leibniz-Instituts für Wissensmedien (IWM) in Tübingen. Als Mitglied der 2021 neu gegründeten Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz berät sie zur Weiterentwicklung des Bildungswesens. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit sozial- und kognitionspsychologischen Prozessen bei der Konstruktion und Nutzung von Wissen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Massenkollaboration, Social Software sowie Wissensmanagement in digitalen Lernumgebungen.





Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 01.12.2022
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